Über ARCA

Im Gegensatz zu den Expeditionen vergangener Zeiten, die es In die „Terra Nova“ zog, wo noch kein anderer Mensch gewesen ist, bewegen sich Clea Stracke & Verena Seibt in bereits bekannte Gefilde. Sie unternehmen eine künstlerische Expedition ins Emschertal – einst Auenlandschaft, im 19. Jahrhundert durch Bergbau und Industrialisierung überformt. Das Expeditionsschiff ARCA dient ihnen und ihrer neu gegründeten Mannschaft als Bühne, Forschungsstation und wanderndes Atelier, von dem aus die umliegende Gegend neu vermessen wird.

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Terra Nova

Obwohl in den frühen Epochen der Kartografie große Teile der Erdoberfläche unerforscht waren, wurden diese Orte auf den Karten selten leer gelassen. Dank dem Horror vacui, der Abscheu vor der Leere, waren alle unbekannten Ozeane und Landstriche mit imaginären Gebirgen und mythologischen Fabelwesen versehen. Erst mit der Aufklärung, als streng wissenschaftliche Ansprüche gegenüber dem künstlerischen Aspekt einer Karte wichtiger wurden, gingen die Kartografen dazu über, diese Orte weiß darzustellen. Denken wir an den Riesenkraken in Jules Vernes Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“, so scheint es, als tauchten die mythologischen Ungeheuer jener alten Karten in den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts wieder auf. Und denken wir an „Moby Dick“, so scheint es kein Zufall zu sein, dass die Farbe Weiß schließlich all das symbolisiert, was nicht zu erfassen oder zu begreifen ist. Auch führt uns der weiße Wal vor Augen, wie sich Fakt und Fiktion gegenseitig bedingen [1] und dass die oder das Fremde als eine zunächst immer feindliche aufgefasst wird, die es zu unterwerfen und zu ordnen gilt. Hegel schreibt: „Indem ich einen Gegenstand denke, mache ich ihn zum Gedanken, und nehme ihm das Sinnliche: ich mache ihn zu etwas, das wesentlich und unmittelbar das Meinige ist: denn erst im Denken bin ich bei mir, erst das Begreifen ist das Durchboren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenübersteht, und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte. […] Ich ist in der Welt zuhause, wenn es sie kennt, noch mehr, wenn es sie begriffen hat.“[2] Nachdem am 7. März 1912 die Entdeckung des Südpols durch Roald Amundsen bekannt gegeben wurde, betitelte die New York Times schon am nächsten Tag ihre Titelseite mit den euphorischen Worten: „Die ganze Welt ist jetzt entdeckt“.[3] Die Entdeckung des Südpols, die zu diesem Zeitpunkt als lokales Ereignis schon mehrere Monate zurücklag, erhält erst im weltgeschichtlichen Prozess, genauer gesagt in der schriftlichen Tilgung des letzten weißen Flecks auf der Weltkarte seine Bedeutung.

Im Gegensatz zu den Expeditionen vergangener Zeiten, die es dorthin zog, wo noch kein anderer Mensch gewesen ist, bewegen sich Clea Stracke & Verena Seibt in heimischen Gefilden. So setzen sie die Segel ihres Einmasters zu einer künstlerischen Expedition ins Emschertal – einst eine Auenlandschaft, die im 19. Jahrhundert durch Bergbau und Industrialisierung gebrochen und „geschwärzt“ wurde. Jedoch oder gerade weil die Schornsteine im Emschertal nun nicht mehr rauchen, zeigt sich heute die Tendenz, im Zuge einer Renaturierung der Flusslandschaft die „düstere“ Vergangenheit zu romantisieren. Diese Neuverortung zwischen Industrieromantik und Naherholungsgebiet bildet für die Künstlerinnen den Ausgangspunkt ihrer Expedition. Stracke & Seibt laden die Besucherinnen und Besucher dazu ein, die einzelnen Schichten und Geschichten des Strukturwandels spielerisch freizulegen und weiter zu spinnen. Hierbei simulieren sie – nicht ohne Ironie – die Art und Weise, in der die großen Expediteure vergangener Zeiten der Terra incognita begegneten. Wie einst Neuland betreten, Küsten und Flussläufe kartographiert und Insekten, Pflanzen und Mineralien gesammelt wurden, so ist es hier die Makulatur der postindustriellen Landschaft, die die Aufmerksamkeit der Emscher Expedition dazu anregt, das Brache, Unscheinbare und Imaginäre unter die Lupe zu nehmen. Und wo einst alte Mythen und Legenden über unbekannte Länder und fabelhafte Wesen entzaubert und den neu entdeckten Dingen klare Merkmale und Begriffe zugeordnet wurden, suchen die beiden Künstlerinnen in ihren Beobachtungen nach einer alternativen Ordnung der Dinge, die vielleicht eher jener ‚gewissen chinesischen Enzyklopädie‘ ähnlich ist, in der es heißt, dass „die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörge, i) die sich wie Tolle gebären, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“[4]

– Holger Otten

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Holger Otten, *1975 in Jever, Kurator am Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen; Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Geschichte in Köln und Basel.

[1] Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851) liegt ein Bericht über einen weißen Wal mit dem Namen Mocha Dick zugrunde, ein berüchtigter, weißer Pottwal, der im frühen 19. Jahrhundert im Pazifischen Ozean lebte und zumeist in der Nähe der Insel Mocha, südlich von Chile gesichtet wurde. Der Wal überlebte unzählige Auseinandersetzungen mit Walfängern, bevor er möglicherweise getötet wurde. Nachdem der amerikanische Forscher und Autor Jeremiah N. Reynolds zahlreiche Augenzeugenberichte gesammelt hatte, veröffentlichte er 1839 einen Bericht über Mocha Dick in einer New Yorker Literaturzeitschrift: Mocha Dick: Or The White Whale of the Pacific: A Leaf from a Manuscript Journal, in: The Knickerbocker, Mai 1839.
[2] Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Sämtl. Werke, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 7, 4. Aufl., Stuttgart-Bad-Cannstatt 1964, S. 51.
[3] Zit. nach: Roland Huntford, Scott und Amundson, Königstein/Taunus 1980, S. 395.
[4] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 10. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 17.